Erinnerung an einen Film von Theo Angelopoulos

In einem Film aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gibt es eine Szene, die man so schnell nicht vergißt, wenn man überhaupt so weit gekommen ist: Eine überlebensgroße Lenin-Statue aus Beton oder ähnlich stabilem Material wird zerlegt und mit einem Kran auf ein Schiff verladen. Anschließend wird über einen langen Zeitraum (gefühlte 20 Minuten) gezeigt, wie das Schiff die Donau herunter fährt. Wechselweise sieht der Zuschauer von oben das Schiff mit dem flachgelegten Lenin und das Ufer, wo sich teilweise Menschen versammeln, um das (für sie) vorbeifahrende Schiff zu betrachten. Untermalt wird die Szene durch die Musik der griechischen Komponistin Eleni Karaindrou, gesprochen wird nicht. – So jedenfalls meine Erinnerung an diese Szene, eine großartige bildliche Veranschaulichung des aufgehört haben real zu existierenden Sozialismus.

Diese Szene ist Teil des großartigen, fast dreistündigen Films ‚Der Blick des Odysseus‚ von Theo Angelopoulos, den ich zweimal im Kino sehen durfte. Das eine Mal war Zufall, eigentlich wollte ich nur dem Lärm der nervtötend knackenden Heizungsrohre in meiner damaligen Wohnung entfliehen. Das Kino Arsenal, damals noch in der Welserstraße in Berlin-Schöneberg, war nicht weit, und die Ankündigung des Films klang zumindest nicht abschreckend. Das zweite Mal war dann Absicht, und ich überredete in meiner Begeisterung eine Freundin, mitzukommen. Zur oben beschriebenen Szene meinte sie nach dem Ende des Films: Die Idee, auf diese Weise das Ende des real existierenden Sozialismus zu zeigen, sei ja sehr gut, aber ganz so ausgiebig hätte der Regisseur seine Idee doch nicht feiern müssen. Ein halbes Jahr später revidierte sie ihre Einschätzung: Es sei genau richtig gewesen, durch die Langsamkeit und Länge der Szene hätten sich die Bilder regelrecht ins Gedächtnis „eingebrannt“.

Lange hat es übrigens gedauert, daß ‚Der Blick des Odysseus‘ (wieder?) auf DVD erhältlich war. Im letzten Jahr erschien er in Originalfassung mit deutschen Untertiteln (Hinweis bei http://dvdbiblog.wordpress.com/2011/03/05/theo-angelopoulos-bei-trigon/, in Deutschland auch erhältlich über den Filmverleih Kairos in Göttingen: http://shop.kairosfilm.de/), zusammen mit weiteren, im Kino ganz selten zu sehenden Filmen von Angelopoulos. (Aus der Box mit sechs Filmen von ‚Die Tage von 36‘ bis ‚Landschaft im Nebel‘ habe ich bislang nur ‚Der Bienenzüchter gesehen, der leider unter einer furchtbaren Bildqualität leidet, als ab man eine VHS-Kassette digitalisiert hätte.)

Während der Dreharbeiten zum Abschluß einer Trilogie, von der ‚Eleni – Die Erde weint‘ und ‚The Dust of Time‘ schon zu sehen waren, ist Theo Angelopoulos am 24. Januar an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben. Ein Nachruf (weitere lassen sich leicht recherchieren): http://www.tagesspiegel.de/kultur/film-polarkreise-der-seele/6112894.html

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1 Kommentar

  1. Ergänzung: Das Verladen der Lenin-Statue verläuft parallel mit einer Abschiedsszene, bei der auch gesprochen wird (etwa 6 1/2 Minuten, 01:09:30-01:14:11), die Fahrt auf der Donau dauert ungefähr 8 1/2 Minuten (01:15:56-01:24:22) und ist auch nicht ganz sprachlos, u.a. gibt es einen kurzen Monolog des Hauptdarstellers sowie das Frage-und-Antwort-Spiel bei der Dreiländer-Grenzkontrolle (mit Anspielung auf den Odysseus-Mythos: Auf die Frage, ob Passagiere mitführen, kommt vom Schiff die Antwort: „Niemand“ – so nannte sich ja Odysseus beim Kyklopen, der dann keine Hilfe bekam, als er rief „Hilfe, Niemand will mich töten“.).

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