Die Kunst des Zitierens

Was soll man davon halten? In einem Aufsatz zum Thema Alkohol bei Zola und Gerhart Hauptmann lese ich im letzten Absatz als eine Art Resümee:

„Dennoch wirkt die Brandmarkung des Alkohols in ‚Vor Sonnenaufgang‘ brüchig, vergegenwärtigt man sich Gerhart Hauptmanns Haltung seit dem Jahr 1891: Er wendet sich wieder zunehmend dem rauschhaften Alkoholgenuss zu, was Hermann Schreiber lapidar als »das Tor [bezeichnet], durch das Hauptmann den Naturalismus verlassen hat«.“

Danach folgt eine Fußnote mit Zitatnachweis: „Hermann Schreiber: Gerhart Hauptmann und das Irrationale, Aichkirchen u. Wien 1946, S. 112.“ (Katharina Lukoschek: Der nüchterne Blick und die apollinische Dimension des Alkohols. Hauptmanns ‚Vor Sonnenaufgang‘ und Zolas ‚L’Assommoir‘. In: Markus Bernauer und Mirko Gemmel (Hrsg.): Realitätsflucht und Erkenntnissucht. Alkohol und Literatur. Berlin 2014, S. 91–114, hier S. 114).

Das ist hübsch, aber leider steht das bei Schreiber so nicht. Er spricht vom Traum, nicht vom Alkohol. (Es ist ohnehin merkwürdig, daß diese alte, bei Josef Nadler entstandene, Dissertation noch zitiert wird; ich habe das auch schon zweimal getan und schon beim ersten Mal vom Betreuer meiner Arbeit die kritische Rückmeldung erhalten, veraltete Literatur vielleicht etwas zu ernst zu nehmen.) Wie kann man sich beim Zitieren so schrecklich vertun? Oder ist es gar eine bewußte Verfälschung? Oder etwas ganz anderes? Die Frage wird sich außer mir vermutlich kaum jemand stellen – warum sollte man auch so eine hübsche Pointe in Frage stellen und das Zitat bei Schreiber im Original prüfen?

Mir dagegen stellte sich die Frage, weil ich mich selbst einmal etwas ausführlicher mit der Bedeutung des Alkohols für Gerhart Hauptmanns Leben und Werk beschäftigt habe. Bei dieser Gelegenheit zitierte ich zum zweiten Mal Schreiber, und zwar wie folgt:

„Demnach hätte der Alkoholrausch eine ähnliche Funktion wie der Traum, dessen Bedeutung für Hauptmanns Schaffen bekannt ist, und zwar als Quelle der Inspiration wie auch als formales Gestaltungsmittel. Hermann Schreiber nannte den Traum »das Tor […], durch das Gerhart Hauptmann den Naturalismus verlassen hat«;45 als Treibstoff (um im Bild zu bleiben) diente unter anderem der Alkohol.“ (Bernhard Tempel: Alkohol und Eugenik. Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis. Dresden 2010, S. 109)

Erkennen Sie die Melodie? Die Fußnote 45 bei mir enthält den Zitatnachweis: „Hermann Schreiber: Gerhart Hauptmann und das Irrationale. Aichkirchen, Wien und Leipzig 1946, S. 112.“ Was also ist passiert? Ich vermute, da hat jemand versucht, Schreiber zu zitieren, ohne Schreiber zu lesen, aber auch ohne darauf hinzuweisen, woher er (bzw. sie) das – einschließlich Auslassung – zitierte Schreiber-Fragment wirklich hat. Und das Unglück nahm seinen Lauf, als zu allem Überfluß die nicht genannte Quelle für das Zitat nicht verstanden wurde, d.h. die Autorin nicht erkannte, was Zitat und was meine Interpretation war.

Daß ihr meine Arbeit nicht entgangen war, wird deutlich, wenn sie auf S. 109 etwas daraus zitiert, was eigentlich kein Zitat wert wäre. Fachleute nennen so etwas wohl ein „Bauernopfer“.

(zuerst auf GooglePlus)

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